HYSTERIE!

Eine subversive Praktik
von Miki Malör

DIE HYSTERISCHEN KAMMERN

Foto: 1. Kammer

Die Kammer des grossen Anfalls   Miguel Angel Gaspar

Epileptoide Periode: 50 Sekunden
Große Bewegungen, Grußgesten: 10 Sekunden
Leidenschaftliche Stellungen, Kreuz: 23 Sekunden
Abwehrgesten: 14 Sekunden
Drohgebärden: 18 Sekunden
Appelatives Verhalten: 10 Sekunden
Schamlosigkeiten: 14 Sekunden
Ekstase: 24 Sekunden
Schrulliges Verhalten: 22 Sekunden
Militärmusik: 19 Sekunden
Verhöhnungen: 13 Sekunden
Lamentieren: 23 Sekunden
dann: Wahn.

Paul RichterEtudes cliniques sur la grande hystérie ou hystéro-épilepsie (1885)
cit. in: Georges Didi-Huberman, Erfindung der Hysterie (dt. 1997)

Foto: 2. Kammer

Die Kammer der Genitalpanik   Miki Malör

Wenn in Afrika ein Mann eine Frau beleidigt oder gedemütigt hat, fühlen sich häufig die Frauen als Kollektiv betroffen, vor allem, wenn es sich um sexuelle Beleidigungen und Ehrverletzungen handelt, die als frauenfeindlich empfunden werden. Sagt beispielsweise bei den Bakweri ein Mann vor Zeugen zu einer Frau: „Deine Möse stinkt”, dann ruft diese alle anderen Frauen des Dorfes zusammen.
Sie umringen den Übeltäter, entblößen vor ihm die Vulva, verlangen ein Schwein als Kompensation für die Beleidigung des weiblichen Geschlechts und eine zusätzliche Buße für die Frau, der er die schmutzigen Worte an den Kopf geworfen hat. Dabei singen sie obszöne Lieder, sowie ein Lied, in dem es heisst:
„Titi ikoli (= tausend Mösen) sind kein Gegenstand von Beleidigungen. Wunderschön, wunderschön.”
Die anderen Männer aber suchen schleunigst das Weite, um zu vermeiden, die entblößten Genitalien der Frauen zu sehen, was sie zutiefst beschämen würde.

Hans Peter DuerrDer Mythos vom Zivilisationsprozeß
Band III: Obszönität und Gewalt (1993)

Foto: 3. Kammer

Die Kammer der fiktiven Liebe   Ingeborg Schwab

Von Jugend auf war ich gewöhnt, am Tag der Beschneidung in heftiges Weinen auszubrechen aus Mitleid über den Verlust des Blutes Jesu Christi. So auch am Tage der Beschneidung, nachdem ich kommuniziert hatte. So in Weinen und Mitleid versunken fing ich an zu überlegen, wo die Vorhaut des Herrn hingekommen sein möge. Und siehe: bald fühlte ich auf der Zunge ein kleines Häutchen, nach Art des Häutchens eines Eies, von äußerster Süßigkeit und ich schluckte es hinunter. Kaum hatte ich es geschluckt, fühlte ich aufs neue ein solches Häutchen mit süßem Geschmack, und ich schluckte es wiederum. Und so fort ungefähr hundertmal. Und nachdem sich das so oft wiederholt hatte, ward ich versucht, es mit dem Finger zu berühren. Im Begriffe aber es zu tun, entschwand das Häutchen von selbst durch den Schlund. Und es wurde mir gesagt, dass die Vorhaut mit dem Herrn am Tage der Auferstehung werde auferstehen. So groß aber war die Süßigkeit beim Genießen des Häutchens, dass ich eine süße Umwandlung in allen Gelenken und Gliedern verspürte. Bei dieser Offenbarung war ich selbst innerlich ganz von Licht durchflossen, so dass ich mich selbst durch und durch betrachten konnte.

Oskar PanizzaAgnes Blannbekin
Eine österreiches Schwärmerin aus dem 13. Jhd., nach den Quellen. (1898)

Foto: 4. Kammer

Die Kammer der rosa Hingabe   Gerda Schorsch

Der erste Vibrator wurde 1869 von einem amerikanischen Arzt namens George Taylor konstruiert. Er war dampfgetrieben und so gross, schwer und dumm, dass er lediglich von Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen angeschafft werden konnte. Es versteht sich von selbst, das ein Apparat mit solch einer Energiequelle nicht allzu praktikabel sein konnte. Knappe zehn Jahre später kam also der erste batteriebetriebene Vibrator. Dies war nicht die einzige Variante: es gab andere, für die Montage an Duschköpfen oder Wasserhähnen bestimmt. Diese verschiedenen Apparate wurden vor allem zur Behandlung verschiedenster »weiblicher Beschwerden« genutzt, in erster Linie das mythische, mystische Leiden, das unter dem Namen Hysterie lief. Eine der Kuren gegen diese Krankheit war Massage der Geschlechtsorgane. Der Zweck war, einen »hysterischen Paroxysmus« hervorzurufen, Medizinerprosa für den Orgasmus, und dazu war der Vibrator aus erklärlichen Gründen das beste Werkzeug.

Foto: 5. Kammer

Die Kammer der täglichen Zumutung   Nicole Kolisch

Immer mehr Frauen finden keine Arbeit. Bei der Ausschreibung für die offizielle Homepage des Finanzministeriums kam nicht der Bestbieter, sondern die zehntgereihte Firma FirstInEx zum Zug. In teils geröchelten, teils nur gehauchten Worten bezeichnete der schwer atmende Lega-Chef seinen Zustand als zufriedenstellend. Mögliche Ausschreitungen von Seiten der Disobbienti befürchtet. Brüssler Beamte wissen nun: Marmelade ist Marmelade. Ein Klick auf „Zeit im Pilz” führt dem Besucher den Werdegang und Wachstum des Grünen sowie seiner Haarpracht vor Augen. Gleich landen wir in der Normandie. Hätten 16 Säulen keinen Karbonmantel erhalten, sondern nur einen nutzlosen Metallring. Samt einem Fotoapparat wurde die Urne des im Jänner gestorbenen Starfotografen beigesetzt. Mit dem hellen Anstrich der Stangen hofften die Strassenbauer, eine schlankere Anmutung zu erreichen. Anonyme abgewohnte Bettenburgen für kranke und alte Menschen. Herbert Fechter schüttelte den Richtern dankbar die Hand. Schon neun Prozent der 13-jährigen Mädchen haben mehrfache Rauscherfahrung. Ereignisse, auf die weder auf der Seegrotten-Homepage noch während der Führungen hingewiesen wird. Richter unter Verdacht. Die Schlusspositionen: Politiker, Autoverkäufer, Fussballtrainer und Fussballmanager. Die Ungarn drehen Filme wie andere Däumchen. Kontrast-TV. Fear-Faktor: jetzt sind die Promis dran. Es ist inakzeptabel, einen international anerkannten Museumsdirektor als Zielscheibe für unqualifizierte kulturpolitische Attacken zu benutzen. Wie man Patienten am Verschwinden hindert. Nach nur acht Kostümwechseln während drei Songs. Als erstes, Mr President, fordern wir Saddams Pistole zurück. Sie gehört dem irakischen Volk. Dicke Fische werden größer. Ringen um Genmais. Mit virtuellem Assistenten durch den Einkaufsdschungel. Burgtheater: Hänsel und Gretel.

Der Standard, 3. Juni 2004

Foto: 6. Kammer

Die Kammer der Schamanin   Monika Giller

Ein Jagdhund ist zweifellos ein viel nervöseres Tier als ein Fleischerhund, und dieser ist wiederum nervöser als ein Ochse. Daß Hysterische hellsehend sind, ist nachgewiesen; im verkleinerten Format wiederholt sich dies beim Neurasthenischen: er ist scharfsehend. Er hat einfach schärfere, beweglichere, regsamere, unruhigere, wachere, weniger verschlafene Sinne. Kurz: an allen psychiatrischen Definitionen der Neurasthenie ist immer nur dies eine zu erkennen: daß sie nichts anderes sind als gehässige Umschreibungen für die physiologischen Zustände des begabten Menschen.
Was also gemeinhin von Psychiatern und anderen Menschen, die nichts von Psychiatrie verstehen, als ein krankhafter Zug unserer Zeit bezeichnet wird, ist gerade das Symptom unserer höchsten Gesundheit, freilich jener Form der Gesundheit, die uns spezifisch ist: es ist der stärkere Herzschlag, die erhöhte Pulsfrequenz, der raschere Stoffwechsel des Steigenden.
Wir müssen unbedingt nervöser werden.

Egon FriedellEcce poeta (1912), Kulturgeschichte der Neuzeit (1931)